Nach Konferenzen oder Workshops gibt es oft eine Art Wrap Up mit den Teilnehmer*innen, in dem blitzlichtartig darüber gesprochen und oft auch dokumentiert wird, was die Teilnehmenden der Veranstaltung daraus mitgenommen, was sie also gelernt haben. Eine Methode, mit der man in einer größeren Gruppe, z.B. bei einer Tagung oder einem Barcamp wie dem OERcamp, viele kleine Fazite sammeln kann, ist ein „Til-Storm“. Til steht hierbei für “today I learned” (oder auch „things I learned”). Der Storm ist eine Anspielung an die Abkürzung T-Storm (von engl. Thunderstorm).
#til – today I learned
Die Abkürzung ist als Hashtag #til in sozialen Netzwerken wie Mastodon oder Bluesky gebräuchlich, wenn man kurz und kompakt etwas teilen möchte, was man gerade neu gelernt hat. Die Ergänzung „Storm“ wie in „Brainstorm“ oder auch in „Shitstorm“ soll zeigen, dass es um eine kollektive und schlagartige Methode geht (mehr zur Methode “til-storm”).
Ausnahmsweise geht es in diesem Beitrag aber nicht um das (Dazu-)Lernen, sondern um das Vergessen.
Warum? So verlockend es klingt, nichts mehr zu vergessen, so wenig erstrebenswert ist es, wie die faszinierende Geschichte von Solomon Shereshevsky zeigt. Das Vergessen ist dabei fast genauso wichtig wie das Lernen. Ohne Vergessen würden z.B. überholte, falsche oder triviale Informationen in unserem Gedächtnis haften bleiben, und unser Gehirn wäre von der Flut an Erinnerungen überfordert. Das könnte letztlich einen kognitiven Kollaps zur Folge haben. Überspitzt könnte man also sagen:
Ohne Vergessen 👉🏼 kein Lernen
Es ist natürlich nicht so leicht – mitunter sogar unmöglich – etwas zu vergessen, schon gar nicht auf Knopfdruck. Das funktioniert genauso schlecht wie nicht an ein weißes Kaninchen zu denken (stimmt’s? 😉). Aber wir dürfen ja zumindest darüber sprechen, was wir gerne vergessen, verlernen (#unlearning) oder uns abgewöhnen würden. Zum Beispiel Dinge, die nicht funktioniert haben oder die einen aufhalten. Ein Konzept, das zum Beispiel in Form von FUCKUP Nights oder dem Fuckup Museum bereits Gestalt angenommen hat und welches in anderen Bereichen gerne noch etwas mehr Gestalt annehmen dürfte. Zum Beispiel in der Wissenschaft, wenn es nach Amrei Bahr und Bertolt Meyer ginge.
#tif – today I forget
Wir müssen neben „today I learned“ also auch über „today I forget“ sprechen. Na gut, korrekterweise müsste es „today I want to forget“ heißen, aber #tiwtf hätte gar keine Ähnlichkeit mehr mit #til. Es bräuchte also neben Til-storms auch Tif-storms. Und genau das haben wir auf dem OERcamp 2024 in Essen gemacht. Die Teilgeber*innen wurden gebeten, zu notieren, was sie gerne vergessen, was sie nicht mehr machen oder wovon sie sich nach oder noch auf dem OERcamp gerne (kognitiv) verabschieden wollen. Diese Zettel wurden dann zerknüllt und weggeworfen. Genauer gesagt auf den Moderator geworfen.
Als Einstieg in die Methode und als Beispiel für etwas, das man (im Bereich OER) vielleicht nicht mehr oder etwas weniger machen möchte und demnach auf einen tif-zettel schreiben könnte, haben wir das „SlOERken“ vorgeschlagen. Eine Wortneuschöpfung des OERcamp-Teams, die in etwa so viel bedeutet wie „besserwisserisch rumzunörgeln, dass etwas Offenes nicht offen genug ist“ (Definition von Nele Hirsch). Warum es sich lohnt, vielleicht etwas weniger zu slOERken, könnt ihr im Beitrag von Jöran über „prinzipielle Offenheit vs. pragmatische Offenheit“ lesen.
Beispiele aus der Praxis
Wovon wollten sich aber unsere Teilgeber*innen gerne verabschieden?
Zum Beispiel…
Beispiel 1: Fear of Missing Out“

Auf den ersten Blick hat die “Fear of Missing Out” erstmal nichts mit OER zu tun, für manche aber scheinbar mit dem OERcamp. Auf dem OERcamp 2024 in Essen gab es nämlich sage und schreibe 56 Sessions. Diese fanden natürlich nicht alle nacheinander statt, sondern in 13 parallelen Slots.

Auch wenn das für die Sessionplanung verwendete Tool Pretalx den Teilgeber*innen ermöglichte
- von überall auf den Sessionplan zuzugreifen,
- von dort auf Infos zu den Sessions wie Name der Teilgeber*in oder die Dokumentation zu kommen
- und sich Favoriten zu markieren, um sich somit ein eigenes OERcamp-Programm zusammenzustellen,
so mussten die Teilgebenden eines doch selbst machen: entscheiden und auswählen. Für eine Session und damit gegen 12 andere. Entscheiden heißt verzichten. Und spätestens jetzt galt es, sich von der eigenen FOMO zu verabschieden.
Beispiel 2: „Ständig OER, OEP, OET, OE, 5-R’s Erklären zu wollen!“

Für viele Teilgeber*innen – genau genommen für die Hälfte – ist jedes OERcamp das erste OERcamp und das schon seit Jahren. Sie sind sozusagen OERcamp-Ersties bzw. OERsties. Die anderen 50 % sind schon das zweite, dritte, … Mal dabei. Unter ihnen die NOERds. Letztere sind mitunter schon sehr lange in der OER-Community unterwegs. Diese gleicht aber nach wie vor einer Graswurzelbewegung, so dass man nicht umhin kommt, Personen, die mit dem Konzept OER und OEP bisher wenig bis gar keinen Kontakt hatten, erklären zu müssen oder zu wollen, was es denn damit auf sich hat. Gerne in Verbindung mit der Frage „Und was machst du nochmal genau?“. OER sind ein Querschnitts-Thema mit vielen Schnittstellen. Und Schnittstellen erfordern Kommunikation, auch über Grundlegendes und Grundbegriffe. Das kann ermüden.
Beispiel 3: „Ich komme um KI herum“

Mit diesem Zettel scheint sich eine der Teilnehmer*innen davon verabschieden zu wollen, nicht mehr mit KI zu arbeiten. Und natürlich kommt man im Jahr 2024 auf einem Barcamp zu offener Bildung und offenen Bildungsmaterialien nicht um Künstliche Intelligenz herum. Warum auch? Das Thema bewegt (nicht nur) das Bildungswesen derzeit sehr stark und so auch die Teilnehmer*innen des OERcamps, was man an den 11 (von 56) Sessions zum Thema KI sehen kann:
- „KI-Unterstützung bei der Erstellung von OER“
- „KI-gestützte Lernpfade“
- „Wie können wir KI in der Lehre einsetzen?“
- „Rechtliche Fragen zu KI und OER“
- „KI in der Hochschullehre“
- „Prompt Engineering für Lehrende“
- „KI-Tools für Bildungsmaterialien“
- „Ethische Aspekte von KI in der Bildung“
- „KI und Inklusion im Bildungsbereich“
- „KI-gestützte Bewertung und Feedback“
- „Zukunft der Bildung mit KI“
Neben den spontan zustande gekommenen Sessions, gab es auch fest eingeplante Berührungspunkte mit dem Thema KI. Einer davon war eine Liveschaltung zum dritten UNESCO OER Weltkongress in Dubai. Genauer gesagt zu Heike Gleibs (Wikimedia Deutschland) und Jöran Muuß-Merholz (Jöran & Konsorten).
Live: der 3. OER Weltkongress zu generativer KI
Die beiden Korrespondent*innen berichteten über die dortigen Entwicklungen und Diskussionen. Der Fokus lag auf der Bedeutung von Open Educational Resources (OER) im Kontext generativer Künstlicher Intelligenz (KI) und deren Potenzial für die Bildung.
Zusätzlich wurden Erkenntnisse über die globale Zusammenarbeit im Bereich OER geteilt, insbesondere wie Strategien und Best Practices aus verschiedenen Ländern adaptiert werden können.
Community Beratschlagung zu OER & KI
Ein weiteres Format war die Community Beratschlagung zum Thema generative KI und OER, inspiriert durch den 3. OER Weltkongress und die Wikimedia-Empfehlungen „Offene KI für alle“. In einem sehr interaktiven Workshop erarbeiteten die Teilnehmenden Fragen, Ideen Vorschläge und Handlungsanweisungen zum Thema OER & KI. Das Ziel war es, die in der OER-Community vorhandenen unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen. Die OERcamp Community wurde sowohl vor, während und nach dem OERcamp in die Erstellung des finalen Ergebnisses einbezogen.
Okay, worum ging es in diesem Beitrag eigentlich? Ach ja! Das Vergessen. Was die Teilnehmer*innen des OERcamp 2024 in Essen noch vergessen wollten, könnt ihr euch hier angucken.
Gibt es etwas, das ihr gerne vOERgessen wollt? Habt ihr auch mal einen Tif-Storm ausprobiert? Dann berichtet uns doch davon, in einem Kommentar unter diesem Beitrag 👇🏼oder auf Mastodon, Bluesky bzw. LinkedIn.
In diesem Sinne, vergesst uns nicht! Und vor allem vergesst nicht, euch für das OERcamp 2025 in Hannover anzumelden! Wir freuen uns auf euch!