Wir sind 2024 in Diskus­sionen um OER und Open Education weit gekommen. Gelegentlich drohen dabei die Grund­lagen zu sehr in den Hinter­grund zu geraten. In diesen Fällen übersehen wir vor lauter Optimie­rungs­be­stre­bungen in Sachen Offenheit, dass an aller­erster Stelle das „O“ nicht für „Optimierung“, sondern für „Zugang“ steht. 

Das „O“ steht für „Zugang“

Das „O“ steht eigentlich für „open“ bzw. für „offen“ – na klar. In den Diskus­sionen um OER und OEP geht es richti­ger­weise oft um lizenz­recht­liche Offenheit (die z.B. die Bearbeitung erlaubt) und konzep­tio­nelle Offenheit (die pädago­gi­schen Fortschritt unter­stützt). Dabei gerät aller­dings bisweilen aus dem Blick, dass auf der grund­le­genden Ebene zunächst einmal der Zugang offen sein muss. Der Zugang, also „access“, steht bei OER vor allen weiteren Eigen­schaften der Offenheit. Ohne Zugang ist alles nichts. Auf Zugang baut alles auf. 

Die nullte V-Freiheit

Im deutsch­spra­chigen Diskurs greifen wir für die Definition von „Open“ oft auf die 5 R-Freiheiten nach David Wiley zurück, die auf Deutsch als die 5 V-Freiheiten übersetzt sind (und hier bei OERinfo als Video erklärt werden).

Text des Titels: DIE 5V-FREIHEITEN FÜR OFFENHEIT zur Definition von „Open" in „Open Content" und .Open Educational Resources (OER) Weiterer Text, welcher wie Stufen übereinander gesetzt ist, beginnend am unteren Stufenende mit Nummer 1 aufsteigend nach oben zu Nummer 5: Die Stufen im Einzelnen: 1 verwahren & vervielfältigen: Das Recht, Kopien des Inhalts anzufertigen, zu besitzen und zu kontrollieren. 2 verwenden: Das Recht, den Inhalt in unterschiedlichen Zusammenhängen zu verwenden. 3 verarbeiten: Das Recht, den Inhalt zu bearbeiten, anzupassen, zu verändern oder umzugestalten. 4 vermischen: Das Recht, einen Inhalt im Original oder in einer Bearbeitung mit anderen offenen Inhalten zu verbinden und daraus etwas Neues zu schaffen. 5 verbreiten: Das Recht, Kopien eines Inhalts mit Anderen zu teilen, im Original oder in Überarbeitungen.

5 V-Freiheiten für Offenheit“ von Julia Eggestein (Grafik), Joeran Muuß-Merholz (inhalt­liche Übersetzung, Anpassung und vorsichtige Erwei­terung) und Jörg Lohrer (Wortschöpfer) unter CC BY 4.0 basierend auf „Defining the ‘Open’ in Open Content and Open Educa­tional Resources“ von David Wiley auf CC BY 4.0.

Verfüg­barkeit ist relativ

Nun würde kaum ein Akteur im OER-Diskurs wider­sprechen und behaupten, dass Access bzw. Verfüg­barkeit nicht grund­legend wichtig wäre. Aller­dings ist Verfüg­barkeit keine absolute Eigen­schaft. Materialien, Werkzeuge oder Platt­formen können graduell unter­schiedlich verfügbar sein – und diese Unter­schiede fallen für verschiedene Personen und Gruppen nicht gleich aus. Was für den einen „ganz einfach“ aussieht, ist für die andere zu kompli­ziert, nicht vertraut oder schlicht unbekannt – oder eben: nicht verfügbar. „No Access“ ist keine harte Grenze, sondern wird subjektiv unter­schiedlich wahrge­nommen. Was für mich als OER-Fortge­schrit­tenen nach optimaler Verfüg­barkeit unter besten Openness-Vorzeichen aussehen kann, ist für jemand anderes unbekanntes und damit unbetre­tenes Terrain.

Es lohnt sich, bei der Frage nach der Verfüg­barkeit und dem „O“ wie „Access“ zwischen einer prinzi­pi­ellen Offenheit und einer fakti­schen oder pragma­ti­schen Offenheit zu unter­scheiden.

Prinzi­pielle Offenheit

In den Open-Commu­nities weiß man um die besten Bedin­gungen für offene Materialien, Werkzeuge und Platt­formen. Wir blicken auf Jahrzehnte an Erfah­rungen und Debatten zurück („free“ oder „open“?), haben Gold-Standards für OER ausge­ar­beitet, Erklär­videos produ­ziert und Fortbil­dungen entwi­ckelt. Vieles davon ist sehr gut begründet. Wer ein Textma­terial nur im PDF-Format teilt, stellt hohe Hürden für alles, was im Sinne der 5V-Freiheiten danach kommt, beispiels­weise für die Bearbeitung.

Die meisten Argumente für prinzi­pielle Offenheit sind gut und nachvoll­ziehbar. Es braucht eben nicht nur Materialien, sondern auch Souve­rä­nität und Unabhän­gigkeit von Tools und Platt­formen, die nicht den Offen­heits­idealen entsprechen.

Pragma­tische Offenheit

Auf der anderen Seite geht mit maximaler prinzi­pi­eller Offenheit in vielen Fällen ein Verlust an tatsäch­licher Verfüg­barkeit einher. Ein Foliensatz auf einer geson­derten Plattform, die auf Lizenz­ver­waltung, Open Source und Reuse optimiert ist, gewinnt sicher einen Preis für prinzi­pielle Offenheit. Aber für die meisten Menschen ist sie subjektiv unerreichbar. Sie finden dazu keinen Zugang bzw. sie wägen ab, ob der zusätz­liche Aufwand für sie den Zugang wert ist. Wahrscheinlich würde eine Datei im Power­point-Format die tatsäch­liche Offenheit um den Faktor 100 erhöhen. Das ist es, was ich pragma­tische Offenheit nenne. 

Spannungsfeld prinzi­piell vs. pragma­tisch

Der poten­tielle Zugang reicht nicht, wenn daraus kein fakti­scher Zugang wird. Es klingt banal: Ich kann nicht auf etwas aufbauen (Stufe 1 bis 5 bei Wiley), wenn ich erst gar keinen Zugang dazu finde (die fehlende Stufe 0). Power­point ist ein Beispiel für Datei­formate. Es gibt andere: Ein Mastodon-Account im Fediverse ist prinzi­piell wesentlich offener als alles andere. Und die Nutzung trägt, so die Hoffnung, zu mehr Nutzung bei und baut so mit der Zeit die Hürden ab. Aber faktisch senke ich mit der Nutzung von WhatsApp oder Tiktok die Hürden für heutige faktische Offenheit. 

Beides

Glück­li­cher­weise gibt es einen Ansatz, um das Spannungsfeld abzumildern: er heißt „beides“, also sowohl-als-auch anstelle von entweder-oder. Wir können OER-Textma­te­rialien als PDF-Datei und in einem bearbeit­baren Format veröf­fent­lichen. Wir können das offene Signal und das proprietäre Whatsapp als Kommu­ni­ka­ti­ons­kanal anbieten. Wir können die schlimmen Seiten an Tiktok wahrnehmen und das Dilemma aushalten, dass Tiktok durch unsere Nicht-Betei­ligung weder verschwinden noch seine Nutzer*innen mehr über Offenheit erfahren würden.

Die Social Media-Strategie des OERcamps

Für uns als OERcamp findet sich die beschriebene Orien­tierung auch in unserer Social-Media-Strategie wieder. Wir sehen das Fediverse als natür­liches Habitat der Openness-Community. Dort sind wir zuerst und zuvor­derst aktiv. Wir kommu­ni­zieren gerne über Signal. Wir nutzen Limesurvey für unsere Umfragen und entwi­ckeln mit Pretix und Pretalx Plugins für zwei Open-Source-Platt­formen, um Anmeldung und Programmor­ga­ni­sation unter Offen­heits-Vorzeichen auszu­ar­beiten. Gleich­zeitig sind wir bei Tiktok, um weitere Kreise von poten­tiell inter­es­sierten Menschen auf unsere Themen aufmerksam zu machen. Unsere Diskus­si­ons­gruppen sind (noch) bei Telegram, weil sie (bisher) dort akzep­tiert und genutzt werden. Und man kann uns tatsächlich eine WhatsApp-Nachricht schreiben.

PS: “It’s the Access, stupid!“

Erst bei der Recherche für diesen Text bemerkte ich, etwas überrascht, wie prominent der Begriff „access“ bzw. „Zugang“ in einem der wichtigsten Papiere zu OER vorkommt. Hier ist die UNESCO Recom­men­dation on Open Educa­tional Resources (OER) von 2017, in welcher der Zugang in jedem der ersten drei, also sehr grund­le­genden Absätze vorkommt, quasi an nullter Position.

Abschnitt aus der UNESCO recommentation, links in Englisch, rechts in deutsch (UNESCO Empfehlung). In einem Abschnitt von  147 Wörtern taucht vier Mal der Begriff „Zugang“ auf.

Der Begriff „access“ bzw. „Zugang“ kommt in den Defini­tionen zu OER zuerst. (ein Ausschnitt aus der UNESCO Recom­men­dation on Open Educa­tional Resources (OER) von 2017 | auf Deutsch hier


Dieser Text „Ohne Zugang ist alles nichts“ von Jöran Muuß-Merholz ist lizen­ziert mit CC BY 4.0.